Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Ehrenamt: Resolution des KV SüW

Allgemeine Überlegungen zur Vereinbarung von Familie und Beruf

Die jüngsten Ereignisse und machtpolitischen Mechanismen um den Rücktritt der Bundesfamilienministerin Anne Spiegels geben aus unserer Sicht Anlass, sowohl bestehende Rahmenbedingungen für das nachhaltig-erfolgreiche Wirken von Personen in Positionen mit hoher Verantwortung und Sichtbarkeit unter gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten auf den Prüfstand zu stellen als auch Ausblicke auf zukunftsfähige Modelle zu geben, die den heutigen Anforderungen an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser gerecht werden.

Aus unserer Sicht ist das überwiegende Wirtschaftsmodell auf der Grundlage des Menschenbildes Homo Oeconomicus nicht mehr zeitgemäß. Dieses Bild des idealen Menschen in der Arbeitswelt beruht auf einer Theorie von John Wells Ingram aus dem Jahre 1888 und wurde erstmals 1906 im Handbuch der politischen Ökonomie von Vilfredo Pareto beschrieben.

Das Modell des Homo Oeconomicus ist rein theoretischer Natur und geht vom ausschließlich rational agierenden Menschen aus. Die Praxis zeigt jedoch, dass im Widerspruch zu diesem Modell jeder Mensch Emotionen und individuellen Präferenzen unterliegt und dass dies oft die Triebkraft für kreatives und empathisches Handeln ist. Zudem stammt das Modell aus einer Zeit, in der eine klare Rollenverteilung bestand, bei der Männer berufstätig waren und die Frauen sich mehrheitlich um Kinder und Haushalt kümmerten.

Beim Anteil berufstätiger deutscher Frauen ist innerhalb der letzten zehn Jahre ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen: Waren 2009 noch 70,3 Prozent der Frauen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren erwerbstätig oder auf der Suche nach einer Erwerbstätigkeit, so waren dies im Jahre 2019 bereits 74,9 Prozent. Die Erwerbsquote der Männer erhöhte sich bis 2011 leicht und zeigte in den Folgejahren eine leicht rückläufige Tendenz. Seit 2017 stieg sie jedoch wieder bis auf 83,5 Prozent im Jahr 2019 an.

Wir halten also fest, dass für das 21. Jahrhundert das Eintreten einer hohen und gleichen Erwerbsquote für Frauen und Männer erwartet werden kann. Frauen und Männer sind schon heute im Mittel gleich gut qualifiziert und engagiert, und das konstruktive Zusammenwirken aller Geschlechter im Arbeitsleben ist alternativlos, s.u.

Jedoch stellen wir fest, dass das vorherrschende Modell des Homo Oeconomicus nicht ausreichend individuell auf die Unterschiede von Frau und Mann eingeht. Frauen und Männer sollten zwar eine vollkommen gleichberechtigte gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Teilhabe genießen, sie sind jedoch physiologisch und im Mittel auch emotional und soziologisch verschieden, und es ist gerade diese Verschiedenheit, die das Arbeiten in gemischten Teams so bereichert/harmonisiert und deswegen die Erreichung von ambitionierten Zielen vereinfacht.

Die soziologischen und emotionalen Unterschiede von Frau und Mann ist durch Geschlechterforschungen belegbar , wobei im statistischen Mittel nur von einer Verschiebung der Ausprägung von Handlungsmustern im Vergleich der Geschlechter jedoch niemals von der vollständigen Abwesenheit eines solchen beim jeweils anderen Geschlecht gesprochen werden kann. Folglich können sich Frauen und Männer gut verstehen und ergänzen: erst im gemeinsamen Wirken kann das Potenzial der Gattung homo sapiens (des vor allem wissenden und reflektierenden im Gegensatz zum nur wirtschaftenden, einseitig agierenden, seinen Gewinn maximierenden Menschen) voll ausgeschöpft werden.

Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Ämtern und Berufen JA, aber unter der Berücksichtigung der nachweislich belegbaren Ergebnisse aus der Geschlechterforschung und insbesondere der real einwirkenden äußeren Einflüsse wie die der auftretenden Doppelbelastung durch Beruf und Familie.

Mütter stellen den Beruf für die Familie häufiger zurück.
Die Erwerbstätigenquote von Eltern mit mindestens einem Kind unter 6 Jahren lag im Jahr 2019 bei 63,4 %, die von Eltern mit Kindern von mindestens sechs Jahren war mit 79,0 % deutlich höher. Allerdings unterscheiden sich dabei Männer und Frauen deutlich. Männer im Alter von 20 bis 49 Jahren mit Kindern von mindestens 6 Jahren waren mit 85,6 % etwas häufiger aktiver erwerbstätig als Väter mit mindestens einem Kind unter 6 Jahren (82,7 %). Bei Frauen ist der Unterschied sehr viel größer: 75,0 % der Frauen mit Kindern von mindes¬tens 6 Jahren waren aktiv erwerbstätig, aber nur 46,7 % der Mütter mit mindestens einem Kind unter 6 Jahren.

Die aktuell vorliegenden Rahmenmöglichkeiten zur Erleichterung des Berufsalltags, wie z.B. die der Kinderkrippen und – tagestätten, Ganztagesschulen, Tagesmütter-Vereine und andere private Initiativen, stellen aus unserer Sicht, aktuell fast flächendeckend, eine gute Basis dar, um als Mutter oder Vater einer Berufstätigkeit nachgehen zu können. Wir stellen aber zum heutigen Zeitpunkt fest, dass gerade Frauen in Führungspositionen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft überwiegend kinderlos sind. Die Entscheidung der Frauen gegen eine eigene Familie wird oftmals aus rationalen Gesichtspunkten getroffen. Die aktuell vorherrschende gesellschaftliche „24/7“ Erwartungshaltung an Bundes – und Landespolitikerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Führungskräfte aus der Wirtschaft lässt sich aber, wenn man selbst Mutter und Vater sein möchte und die Familie nicht fast ausschließlich durch eingestelltes Personal (Ursula von der Leyen) oder alleinig durch

den/die Partner*in oder Großeltern betreut wissen möchte, nicht erfüllen. Eine vorrangige Betreuung und Erziehung der Kinder durch ihre Eltern, ist im Interesse der Kinder.

Weiterhin sind nachweislich viel mehr Frauen als Männer in Nichtführungspositionen im Rahmen von Teilzeittätigkeit beschäftigt. Der Ursprung dieser familiären Aufgabenverteilung, dass Frauen Teilzeitberufstätigkeiten wählen und zusätzlich deren Hauptaugenmerk auf der Kindererziehung, Haushaltsarbeiten und Pflege von Angehörigen liegt, hat meistens folgenden Grund: Frauen verdienen in Deutschland im Durchschnitt immer noch 18 % weniger als Männer. Entsprechend liegt die Altersarmutsgefährdungs-quote für Frauen mit 16.4 % höher als für Männer mit 12.7 % .

Das Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit unterstützt zwar die Herstellung der Transparenz aber lange noch nicht die konsequente Einhaltung der Lohngerechtigkeit. Solange das so bleibt, wird fast jede Familie ihren eigenen Haushaltsplan dem leider vorliegenden System anpassen. Hinzu kommt, dass die sogenannte Care-Arbeit wie Kindererziehung, Haushalt, Pflege von Angehörigen und häufig viele Ehrenämter quasi unentgeltlich verrichtet wird. Insbesondere Alleinerziehende sind in unserem aktuellen System durch einen hohen zeitlichen Aufwand für die Kinderbetreuung (über)belastet.

Frauen sind anteilig etwas seltener freiwillig engagiert als Männer, und sie übernehmen deutlich seltener eine Leitungsfunktion im freiwilligen Engagement. Da sich die Motive für freiwilliges Engagement von Frauen und Männern kaum unterscheiden, ist zu vermuten, dass weniger die Motivation als die jeweiligen Rahmenbedingungen, also zum Beispiel zeitliche Restriktionen, ausschlaggebend für die Ausübung und Ausgestaltung freiwilligen Engagements sind. Das freiwillige Engagement von Frauen und Männern ist besonders im mittleren Lebensalter geprägt von ihrer jeweiligen Lebenssituation im Hinblick auf Beruf und Familie. Im statistischen Durchschnitt unterscheiden sich die Vereinbarkeitsstrategien von Frauen und Männern dabei deutlich, wobei nach wie vor auch Muster der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zum Tragen kommen. Zeitrestriktionen, die das Ausüben einer freiwilligen Tätigkeit erschweren könnten, bestehen nicht nur aufgrund der Erwerbsarbeit sondern auch aufseiten der Familienarbeit. Frauen sind dadurch möglicherweise eingeschränkter in der zeitlichen Flexibilität und dem zeitlichen Aufwand für freiwilliges Engagement als Männer. Wenn Frauen den Großteil der Aufgaben übernehmen, die Haushalt und Sorgearbeit für eigene Kinder betreffen, geht damit meist ein hoher zeitlicher Aufwand einher. Im Alltag ist durch die institutionelle Betreuungssituation der Kinder häufig auch ein starrer zeitlicher Rahmen gesetzt. Die Kinder müssen beispielsweise zu festen Zeiten vom Kindergarten oder von der Schule abgeholt werden .

Für den ländlichen Raum stellen wir fest, dass wesentlich weniger Frauen als Männer für die Ausübung von Ehrenamt und politischem Mandat zur Verfügung stehen. Die im Frauenstatut von Bündnis90/Grüne festgelegte Frauenquote sieht eine aus oben genannten Gründen zu befürwortende paritätische Besetzung vor. Gerade im ländlichen Raum kommt es jedoch durch diese Regel zur zahlenmäßigen Unterbesetzung mit grünen Politikerinnen in Kreis- und

Ortsvorständen. Dies ist hochproblematisch und erfordert eine frauenpolitisch zukunftsfähige Lösung.

Aus unserer Sicht ist es erforderlich und auch möglich, Familie, Beruf und Ehrenamt besser miteinander in Einklang zu bringen. Hierzu muss ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden und die Gesetzgebung, Arbeitsmodelle aber auch parteiinterne Strukturen an die realen Gegebenheiten angepasst oder sogar neu gestaltet werden.

Daher fordern wir unsere Partei im Bund und den Ländern dazu auf:

  • die Erstellung und Umsetzung zeitgemäßer, progressiver Arbeitszeitmodelle wie z.B. Jobsharingmodelle und Ehrenamtsfunktions-Sharing-Modelle für Vorstandsgremien, in Leitungsfunktionen der öffentlichen Verwaltungen, beruflichen und ehrenamtlichen politischen Gremien, Landes- und Bundesministerien sowie verantwortungsvollen Positionen in Kultur und Wissenscha in die Regierungsarbeit einfließen zu lassen
  • dies in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsvertreterinnen und Gewerkschaftsvertreterinnensozialverträglich zu entwickeln.

Folgende Vorschläge sollten dabei berücksichtigt werden:

  • Erweiterung des Elternzeitmodells: Die Dauer der Elternzeit soll pro Kind bis zur Vollendigung des 18. Lebensjahrs für alle Eltern gesetzlich verankert sein. In dieser Zeit sollen Mütter und Väter jederzeit die Möglichkeit erhalten, zusätzliche, begrenzte Sonderurlaubszeiten zu erhalten. Die Arbeitgeberinnen sind dazu verpflichtet, ihre Mitarbeiterinnen für diese Zeiten freizustellen.
  • Erhöhung des Anspruches auf Sonderurlaub im Fall akuter Pflegesituationen bei Angehörigen
  • Steuerentlastungen bei Jobsharing-Modellen
  • Erhöhung der Rentenpunkte für Teilzeitangestellte
  • Gesetzliche Verpflichtung zum gleichen Lohn bei gleicher Tätigkeit mit flächendeckender Kontrolle
  • Evaluierung des Schulferiensystems mit dem Ziel der sinnvolleren Verteilung von Schulferienzeiten
  • Erhöhung der Ehrenamtspauschale

Simone Fischer-Gora und Dr. Ralf Hofmann,
Bündnis90/Die Grünen, KV Südliche Weinstraße